Sonntag, 12. Februar 2012

Von Leistung, Erfolg und anderen Ungetümen

Ich habe neulich im Spiegel Online gelesen, dass heutige Schüler einen vergleichsweise gesunden Lebensstil führen sollen. Sie rauchen doppelt so wenig, wie noch vor zehn Jahren, achten auf gesunde Ernährung, machen mehr Sport. An sich eine sehr begrüßenswerte Entwicklung.
Leider war die Erklärung dieses Sinneswandels vom Bildungsforscher Klaus Hurrelmann in meinen Augen alles andere als begrüßenswert, sondern besorgniserregend. Herrn Hurrelmann zu Folge hätten die Jugendlichen eingesehen, dass sie gesund und fit sein müssen um leistungs- und konkurrenzfähig auf einem zunehmend unsicheren Arbeitsmarkt zu sein.
Die jungen Leute wandten sich stattdessen wieder traditionellen Werten zu. Sicherheit, Ordnung, Disziplin und Fleiß erleben seither eine Renaissance“: Aus dem unbedachten Blickwinkel des Bürgers an sich eine positive Entwicklung, nicht wahr? Es wächst eine vernünftige, tüchtige und fleißige Generation heran, die als Ziel hat, sich wirtschaftlich und gesellschaftlich zu „behaupten“, irgendwann im sicheren Hafen des Eigenheims zu landen und bis zur Rente den angestammten Arbeitsplatz zu hegen und zu pflegen, vielleicht ja sogar aufzusteigen. Auch hier kann man nur schwerlich etwas an dieser Lebenslaufbahn aussetzen, denn es entscheidet jeder immer noch selbst, wie er gerne leben möchte.
Was ist also besorgniserregend?
Besorgniserregend ist in meinen Augen die Motivation dieser Jugendlichen, einen gesunden Lebensstil führen zu wollen (davon mal abgesehen, dass exzessive und regelmäßige Saufgelage, die über die natürliche Experimentierfreude junger Leute hinausgehen, sich immer noch großer Beliebtheit erfreuen). Diese Motivation basiert auf einem immensen und allgegenwärtigen Leistungs- und Konkurrenzdruck, der schon in der Grundschule beginnt und proportional zur Klassenstufe steigt. Wenn man die Einschätzung von Herrn Hurrelmann ernst nimmt, dann müssten die Schüler anscheinend schon ab der Mittelstufe mehr oder weniger an ihren Karrieren basteln.
Sie informieren sich, was an sich richtig ist. Sie überlegen, wo ihre Stärken liegen, was an sich auch richtig ist. Aber sie machen es anscheinend nicht nur aus dem Wunsch heraus, sich selbst besser zu erfahren und eigene Fähigkeiten auszutesten, sondern folgen dem kleinen Karrierebauer im Hinterkopf, der  fleißig die Legosteine zusammen steckt.
Am schlimmsten an der Geschichte finde ich die Angst und den Druck, die dahinter stehen. Die Angst, den gesellschaftlichen Ansprüchen, der vermeintlichen Norm, nicht zu genügen und den Druck, besser als andere zu sein, denn nur so bekommt man ja einen gut dotierten und begehrten Arbeitsplatz. Dass man diesen begehrten Arbeitsplatz auch weiterhin mit den Ellenbogen verteidigen muss, darauf wird man auch sorgfältig und nachhaltig vorbereitet. Denn die „Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt [sei] keine Selbstverständlichkeit mehr“ und die „Individuelle Leistungsfähigkeit“ in diesem Zusammenhang zunehmend wichtiger.
Wer hat sich die besagte Norm ausgedacht und wie geht es den Menschen mit dieser Norm, in die sie hineingezwängt werden? Und wie geht es den Menschen, die in diese Norm nicht hineingezwungen werden konnten? Warum ist öfter von „Individueller Leistungsfähigkeit“ und nicht von „Individueller Entwicklung“ die Rede?
Diese Kritik darf man nicht falsch verstehen. Es müssen nicht alle mit dem zufrieden sein, was ihnen mal zufällig in den Schoß fiel und ansonsten weiterhin auf den Sofa sitzen und über die individuelle Entwicklung philosophieren. Die Zusammenstellung „Karriere machen“ könnte sich aber im allgemeinen Sprachgebrauch über die Begriffe „Topmanager“ und „leitender Angestellter“ hinausbewegen. Dafür muss die Motivation der Menschen stimmen. Und bevor die Motivation stimmt, muss die Gesellschaftsstruktur stimmen.
Aber, man muss ja bei kleinen Dingen anfangen. Beispielsweise könnte man damit anfangen, sich vor dem Ziel „Topmanager“ zu überlegen, was man managen möchte und warum man es möchte. Und vor allem muss sich im Bewusstsein des Bürgers an sich manifestieren, dass der Erfolg (ein von mir verhasstes Wort) eines Topmanagers nicht weniger Wert ist, als der Erfolg eines „normalen“ Angestellten, der seine Aufgaben aber spannend findet und sich engagiert. Wäre die Suggerierung vom unsicheren Arbeitsmarkt durch lebensbejahendere Zukunftsaussichten ersetzt oder zumindest ergänzt, könnte sich so mancher Topmanager vor dem Burnout retten und so mancher „normaler“ Angestellter würde vielleicht auch dazu kommen, sich Gedanken über seine eigentlichen Vorlieben und Talente zu machen, bevor er, zur Vorsorge, eine Kaufmann- (oder Frau) Ausbildung anfängt.
Und wäre es nicht schön, wenn die Jugendlichen einen gesunden Lebensstil führen würden, weil sie es einfach aus Überzeugung gut finden? Und nicht, weil der gesunde Körper möglichst lange erhalten bleiben sollte, um sich später mit hoher „individueller Leistungsfähigkeit“ in den „unsicheren Arbeitsmarkt“ mit der ganzen Kraft der Ellenbögen zu stürzen.

Quelle: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,814503,00.html



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